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Rainer Maria Rilke

Von der Armut und vom Tode

Rainer Maria Rilke, Porträt von Paula Modersohn-Becker, 1906 (cc)

“So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.”

Rilke, Rainer Maria, war definitiv kein Großstädter. Er kannte Prag, wo er als Kind und als Student gelebt hat, er kannte München und Venedig, hat Florenz gesehen und Moskau, und einige Zeit hat er in Berlin gelebt, aber ein Großstädter? War er nicht, als er 1902 nach Paris kam, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Wo er Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schrieb, seinen einzigen Roman, der mit eben diesem Satz beginnt:

“So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer. Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, Pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.”

Und dann? Rilke, ein Dichter, der in der Lage war, Trost zu finden noch in einem welken Blatt und hinter jeder Mauer ferne Gärten ahnte, er macht sich auf, in all dem Elend die Schönheit zu suchen, den Glanz in der Armut, das Leben kurz vorm Tod. Ein poetischer Assisi? Ein meditativer Marx? Ein Beispiel:

“DENN, HERR, die großen Städte sind 
verlorene und aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen,
die immer in demselben Schatten sind,
und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen
zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, –
und müssen Kind sein und sind traurig Kind.

(…)

Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten,
und langsam sehnen sie sich dazu hin;
und sterben lange, sterben wie in Ketten
und gehen aus wie eine Bettlerin.

(…)

Sozialkritik in edler Eleganz, so scheint es, alles wie erleuchtet. Zum Ende seines eigenen Lebens hin sehnte sich Rilke dann allerdings nach anderem, er sympathisierte vehement mit dem italienischen Faschismus, dem “Schmied eines neuen Bewußtseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzündet”. Schon irritierend, dass ein Ästhet wie er eine Figur wie Mussolini plausibel finden konnte. Mehr noch irritiert, dass das Unbehagen an der Moderne, das Rilke ästhetisiert hat wie keiner, in Verklärung überkippen kann, die sich  –  sie ist das Gegenteil von Aufklärung  –  auf alles und jeden richten kann. Wir sollten Rilke, gerade den religiös empfindsamen, immer auch als Warnung lesen.


Rainer Maria Rilke – Von der Armut und vom Tode
Das Stunden-Buch – Band 3. Eine poetisch-musikalsiche Inszenierung

Programmauftakt der Evang. Stadtakdemie Bochum

>> Freitag 11. Januar 19:30 Uhr
>> Einlass 19:00 Uhr
>> Tickets 8,00 | 5,00 €
>> nur Abendkasse

MIT
Gotthard Fermor | Lesungen
Mark S. Burrows | Meditationen
Josef Marschall | Klavier

DAS BUCH
Rainer Maria Rilke, Gotthard Fermor (Hrsg.)
Das Stunden-Buch
Drittes Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode. Mit 1 Audio-CD
Musik von Josef Marschall
Geleitwort von Mark S. Burrows
Mit Fotos von Klaus Diederich
Hardcover, Pappband, 128 Seiten, 29,7 x 21,0 cm

GOTTHARD FERMOR | Professor Dr.
ist Musiker und Direktor des Theologisch-Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche im Rheinland und lehrt Gemeindepädagogik an der Ev. Hochschule R-W-L in Bochum; aktiver Jazzmusiker und Rezitator, organisiert Kulturveranstaltungen und leitet Spiritualitätskurse in der Erwachsenenbildung. Mitbegründer des Arbeitskreises Populäre Kultur und Religion.

MARK BURROWS | Professor Dr. 
ist Professor für Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum; er ist Dichter und Redakteur für Poesie für die Zeitschrift Spiritus. A Journal of Christian Spirituality; neue Übersetzung von Rilkes Gedichten ins Englische: “Rainer Maria Rilke, Prayers of a Young Poet, trans. and intro, Paraclete Press, 2013”.

JOSEF MARSHALL
ist Komponist, Keyboarder und Jazz-Pianist, TV-Filmmusikkomponist und Sounddesigner; Komposition, Soloprojekte und Live Konzerte.

Rainer Maria Rilke

Von der Armut und vom Tode

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